Die Figuren im Detail
Die Nonne
Von den 14 Wasserspeiern an der St. Stephani-Kirche ist diese die einzige Frauenfigur. Wegen der schleierähnlichen Kopfbedeckung und des langen Gewands vermutet man, dass es sich um eine Nonne handelt. Im Mittelalter waren Ordensfrauen ein beliebtes Motiv für die damaligen Steinmetze. Weil das klösterliche Leben mit der Zeit einen immer schlechteren Ruf hatte, verband sich mit der Darstellung von Nonnen und Mönchen manchmal auch Hohn und Spott. An Kirchen angebrachte Wasserspeier konnten eine Kritik am scheinheiligen Leben der Geistlichen ausdrücken. Ihre Enthaltsamkeit nahm man ihnen nicht mehr ab. Stattdessen warf man ihnen moralische Fehltritte und eine ausgeprägte Doppelmoral vor.
Bei genauem Hinsehen erkennt man, dass die Nonne an der St. Stephani-Kirche etwas umklammert. Ob es sich um ihren Bauch oder einen unbekannten Gegenstand handelt, ist dabei nicht ganz klar. Es kann aber der Eindruck entstehen, als habe die Nonne etwas zu verbergen.
Die Judenfeindliche Schmähplastik
Seit dem Mittelalter finden sich an Kirchen immer wieder judenfeindliche Bilder. So auch hier an der St. Stephani-Kirche in Calbe. Der Wasserspeier zeigt eine sogenannte „Judensau“-Darstellung, ein Motiv, das lange Zeit weit verbreitet war und heute noch an etwa 30 Kirchen zu finden ist. Juden werden so auf obszöne Weise mit Schweinen in Verbindung gebracht – Tiere, die im Judentum als unrein gelten. Von christlicher Seite wurden Juden so als Sünder markiert und öffentlich dem Spott preisgegeben. Überall in Europa kam es im Mittelalter und der Frühen Neuzeit zu Gewalt und Ausgrenzung gegenüber der jüdischen Bevölkerung.
Wahrscheinlich datiert die judenfeindliche Figur in Calbe in das 19., vielleicht auch in das frühe 20. Jahrhundert. Der Wasserspeier ist also keine mittelalterliche Darstellung, sondern wurde zu einer Zeit angebracht, als der Judenhass schon deutlich rassistische Züge trug. Im 19. Jahrhundert bildete sich in Deutschland der moderne Antisemitismus heraus, der später auch die ideologische Grundlage des Nationalsozialismus bildete.
Die Figur an der St. Stephani-Kirche ist heute verhüllt. Die Kirchengemeinde in Calbe möchte damit zum Ausdruck bringen, dass sie sich von der judenfeindlichen Aussage des Wasserspeiers distanziert.
Der Dämon
Dieser Wasserspeier zeigt ein eigenartiges dämonisches Geschöpf. Die Figur hat den Rumpf eines Nutztiers, den Rüssel eines Schweins, tiefe Augenhöhlen und spitze Ohren. Mit weit aufgerissenem Mund verschlingt sie ein gehuftes Tier. Mit den angedeuteten Lippen und den gerundeten Zähnen erinnert der Schlund des Dämons ein wenig an einen menschlichen Mund. Ist hier ein böser Geist in einen Menschen gefahren? Oder handelt es sich um ein Fabelwesen?
Dämonische Gestalten gibt es in der christlichen Kunst in den verschiedensten Formen. Bereits im Mittelalter versah man sie mit speziellen körperlichen Merkmalen, um ihre Lasterhaftigkeit darzustellen. Neben Teufelshörnern waren dabei auch Schweineattribute verbreitet. Im Neuen Testament beschreiben die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas, wie die Dämonen, von denen Jesu einen Besessenen befreit, anschließend in eine Schweineherde fuhren. Schweine galten zudem als schmutzig und gefräßig.
Dämonen sollten in der christlichen Bildtradition das Böse, aber auch das Absurde, Unreine und Unnatürliche verkörpern. Zugleich waren sie Zeugnisse für den Sieg Christi über das Böse.
Der Bartbruder
Dieser Wasserspeier zeigt einen bärtigen Mann im Gebet. Wahrscheinlich ist es ein Mönch – dafür spricht zumindest die Kutte mit zurückgezogener Kapuze und die Tonsur, die der Mann trägt. Der lange Bart könnte darauf hindeuten, dass es sich um einen Laienbruder handelt. Als Laienbrüder bezeichnete man Mönche ohne Priesterweihe. Sie erledigten in den Klöstern meist körperliche Arbeiten, z.B. als Handwerker oder in der Landwirtschaft. Im Gegensatz zu ihren geweihten Ordensbrüdern waren Laienbrüder an ihrem langen Bart zu erkennen. Man nannte man sie deshalb auch Bartbrüder oder Bärtling.
Steinerne Darstellungen von Geistlichen finden sich gleich dreimal an der St. Stephani-Kirche. Auch beim Bartbruder könnte es sich um eine satirische oder kritische Bezugnahme auf das Klosterleben handeln. Sicher können wir das aber nicht sagen. Vielleicht verkörperte die Figur auch die Frömmigkeit oder spielte schlicht auf das klösterliche Leben im Calbe an. Bis 1563 war hier im Stift Gottesgnaden der Prämonstratenserorden ansässig, dem allerdings keine Laienbrüder angehörten.
Der Drache
Dieser Wasserspeier zeigt ein weiteres fantastisches Mischwesen. Die feingliedrigen Flügel und die reptilienartige Kopfform legen nahe, dass wir es mit einem Drachen zu tun haben. Drachen sind in der christlichen Kunst weit verbreitet. Gemeinhin wurden sie früher mit dem Teufel in Verbindung gebracht. In der Offenbarung des Johannes nimmt der Drache eine zentrale Rolle als Gegenspieler Christi. Nicht erst seit dem Mittelalter gilt das Töten von Drachen als heldenhafte Tat und als Sieg des Guten über das Böse.
Neben den tierähnlichen Tatzen fallen bei der Figur vor allem die zwei menschlichen weiblichen Brüste ins Auge. Tatsächlich war die Darstellung von Drachen mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen früher nicht unüblich. Sexualität, insbesondere die von Frauen, war im Christentum mit der Sünde assoziiert. Außerhalb der Ehe galt sie als zügellos, ungebändigt und anstößig. Indem man Drachen und Dämonen mit weiblichen Attributen ausstattete, unterstich man noch einmal deren unmoralischen Charakter. Gleichzeitig wertete man Frauen und ihre Körper auf diese Weise als potentiell sündhaft und verführerisch ab.
Besonders in der Frühen Neuzeit war diese Art der Darstellung auf Holzschnitten und Drucken präsent. Die Figur des Drachens an der St. Stephani-Kirche verweist somit auch auf die lange Geschichte von Frauenfeindlichkeit.
Der Hund
Die einzige Tierfigur an der der Nordfassade zeigt einen Hund. Ob das schon immer so war, wissen wir nicht. Bis vor kurzem hatte dieser Wasserspeier nämlich noch gar keinen Kopf. Er war im Laufe der Zeit abgefallen, erkennen konnte man nur noch den Rumpf eines Raubtiers mit Tatzen. Im Zuge der Restaurierung wurde dem Wasserspeier nun ein neuer Hundekopf modelliert. Das Tier setzt gerade zum Sprung an. Bedrohlich bleckt der Hund seine Zähne.
Der Wasserspeier ist nicht die einzige Hundefigur an der St. Stephani-Kirche. Ein weiterer Hund befindet sich auf der Südseite. Die Darstellung des Hundes konnte im Mittelalter verschiedene Dinge bedeuten. Einerseits galten Hunde als treue Begleiter und kluge Jagdtiere. In der christlichen Auslegung waren sie aber vielfach negativ konnotiert und wurden nicht selten mit Zauberei oder dem Tod in Verbindung gebracht. Im Mittelalter mussten Menschen, die sich etwas zu Schulden kommen ließen, bei sogenannten Schandstrafen öffentlich mit einem Hund posieren.
Als Hunde beschimpfte man früher auch die slawische Minderheit der Wenden östlich der Elbe – ein Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit. Auch in antijüdischen Bildprogrammen spielten Hunde immer wieder eine Rolle.
Der Hinterhältige
Die Figur des Menschen an der Nordseite der St. Stephani-Kirche ist von allen 14 Wasserspeiern mit am schwierigsten zu deuten. Der dargestellte junge Mann trägt eine Schecke, ein modisches Kleidungsstück aus dem 14. Jahrhundert. Zusammen mit der ebenfalls recht modischen Lockenfrisur gewinnt man den Eindruck, dass es sich um eine Person von gehobenem Stand handeln muss. Wer genau hier abgebildet ist, welcher gesellschaftlichen Gruppe oder welchem Beruf die Figur angehört, lässt sich aber nicht sagen.
Auffällig ist hingegen die Körperhaltung, die die Person einnimmt. Mit der rechten Hand hält sich die Figur den Mund zu. Die linke Hand wiederum versteckt sie hinter ihrem Rücken. Versucht sie vielleicht ein Lachen zu unterdrücken? Bei genauerem Hinsehen scheint es so, als habe die Person etwas ausgeheckt – vielleicht einen Streich oder irgendeine andere Gemeinheit. Es ist deshalb durchaus denkbar, dass der Wasserspeier das Abbild eines hinterhältigen Menschen darstellen sollte. In diesem Falle würde es sich hier um eine weitere Hohn- uns Spottfigur handeln. Und vielleicht auch um eine Mahnung vor heimtückischem Verhalten.
Der Mönch
Die Figurenreihe auf der Südseite beginnt mit der Darstellung eines Mönchs. Die Figur wurde 2020 komplett neu gefertigt. Sie war zuvor stark verwittert und auch ihr Kopf war mit der Zeit abhandengekommen. Trotzdem wissen wir, dass es sich um einen Mönch handelt. Der Calbenser Pfarrer Moritz Gotthelf Rocke hatte die Figur 1866 nämlich erstmals detailliert beschrieben.
In seiner heutigen Erscheinung trägt der Mönch einen Bart und eine lange Kutte. Seine Hände hat er zum Gebet gefaltet. Zusammen mit dem Bartbruder und der Nonne auf der Nordseite ist der Mönch die dritte Darstellung eines Geistlichen an der St. Stephani-Kirche. Ob es sich bei ihm um eine Spottfigur handelt, um auf die Scheinheiligkeit der Geistlichen aufmerksam zu machen, können wir heute nur vermuten. Die Häufung der Figurengruppe legt aber nahe, dass die klösterliche Kultur in Calbe eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielte. Über steinerne Darstellungen waren Mönche und Nonnen nicht nur in Klöstern und Stiften, sondern auch im öffentlichen Raum präsent.
Der Dudelsackspieler
Unsere nächste Figur zeigt wieder eine Menschenfigur. Die Person trägt keine Kleidung, spielt dafür aber ein längliches Blasinstrument. Beim näheren Hinsehen erkennt man, dass es sich um einen Dudelsack bzw. eine Sackpfeife handeln muss. Seit dem späten Mittelalter war der Dudelsack in ganz Europa verbreitet. In der Kunst findet man ihn in zahlreichen Darstellungen von ausgelassenen Festen und höfischem Zeitvertreib. Der Dudelsack steht seit dem späten Mittelalter also für Vergnügen und Geselligkeit.
Wie die meisten anderen Figuren an der St. Stephani-Kirche stammt die Figur des Dudelsackspielers ziemlich wahrscheinlich nicht aus dem Mittelalter. Womöglich gab es aber eine Vorgängerfigur, die die Gläubigen vor dem Laster der Überschwänglichkeit und der Vergnügungssucht warnen sollte. Denkbar ist aber auch, dass dieser Wasserspeier einfach eine Reminiszenz auf das gesellige und musikalische Leben in alten Zeiten darstellt.
Der Dickbäuchige
Dieser Wasserspeier zeigt eine männliche Figur mit einem auffällig dicken Bauch. Ähnlich wie der hinterhältige Mensch an der Nordseite der St. Stephani-Kirche trägt auch er eine mit Knöpfen besetzte Schecke aus dem Mittelalter und eine auffällige Lockenfrisur. Auch diese Person scheint also einem höheren Stand anzugehören.
Wahrscheinlich stellt die Figur einen Reichen dar, dessen ausschweifendes Luxusleben ihm den sehr dicken Bauch beschert hat. Folgt man dieser Interpretation, so handelt es sich um ein weiteres Hohn- und Spottbild. Sinnbildlich verkörpert der dicke Bauch des Mannes die Laster der Maßlosigkeit, der Völlerei und des Überflusses – und gibt die Person so der Lächerlichkeit preis.
Eine andere Lesart wiederum geht davon aus, dass der Wasserspeier eine Männerschwangerschaft zeigt – und sich so über die angebliche Verweiblichung der mittelalterlichen Männermode lustig macht. Die Figur wäre in diesem Fall ein weiteres Zeugnis der Abwertung weiblicher Körper im öffentlichen Raum, ähnlich wie sie an der St. Stephani-Kirche auch bei der Drachenfigur zum Ausdruck kommt.
Der Wolf
Dieser Wasserspeier zeigt ein wolfsähnliches Tier mit grimmigem Gesichtsausdruck und gefletschten Zähnen. Die Figur wirkt bedrohlich. Wahrscheinlich handelt es sich hier um einen Wolf.
Lange Zeit galt der Wolf als ausgesprochen böses Tier. In biblischen Texten wurden Wölfe als Bedrohung dargestellt, auf frühneuzeitlichen Drucken wurden sie auch in Verbindung zu Dämonen oder dem Teufel gebracht. Besonders die Figur des Werwolfs brachte die dämonische Stellung des Wolfs in der christlichen Vorstellungswelt auf den Punkt.
Über die Märchensammlungen der Gebrüder Grimm erfuhr das Bild des bösen Wolfs auch im 19. Jahrhundert eine starke Popularisierung. Die Geschichten vom Rotkäppchen oder dem Wolf und den Sieben Geißlein sind bis heute literarische Klassiker und erzählen von der Hinterhältigkeit und Gefräßigkeit des Wolfs.
Der Modenarr
Dieser Wasserspeier an der Südseite der St. Stephani-Kirche zeigt wieder eine Menschenfigur. Die dargestellte Person ist offenbar nackt, trägt an ihren Füßen aber modische Schnabelschuhe. Diese Schuhe waren vor allem im Spätmittelalter sehr beliebt. Mit der Zeit trugen sie nicht nur Adlige, sondern auch Menschen aus anderen gesellschaftlichen Schichten. Auf die großen Schnabelschuhe des französischen Grafen von Anjou geht auch das Sprichwort „auf großem Fuß leben“ zurück.
Wegen der äußerst populären Schuhe und der gescheitelten Lockenfrisur ist die Figur oft als Modenarr beschrieben worden. Der Calbenser Pfarrer Moritz Gotthelf Rocke interpretierte die Figur 1866 allerdings als einen heidnischen Wilden. Vielleicht verbindet sich mit der Nacktheit der dargestellten Person auch eine christliche Symbolik. Die Figur könnte in diesem Sinne als ein kniender Sünder vor Gott verstanden werden. Ganz genau wissen wir es aber nicht.
Der Greif
Neben dem Drachen an der Nordseite ist der Greif das zweite bekannte mythische Fabelwesen an der St. Stephani-Kirche. Man erkennt ihn an seinen löwenartigen Tatzen, den angelegten Flügeln, seinem Vogelschnabel und den spitzen Ohren. Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass sich das Tier im Kampf mit einer Schlange befindet.
Tatsächlich waren Greif und Schlange lange Zeit ein bekanntes Bildmotiv. In der christlichen Kunst findet man es seit der Antike immer wieder, zum Teil auch an Kirchen. Symbolisch gezeigt wird der Kampf des Guten gegen das Böse. Zum Schutz der christlichen Gemeinschaft wehrt der Greif als Wächtertier die Schlange ab. In der christlichen Vorstellungswelt steht sie nicht nur für das Dämonische, sondern verkörpert seit der biblischen Erzählung von Adam und Eva auch die Sünde und die Versuchung.
Außerhalb der christlichen Vorstellungswelt erfuhr der Greif später aber auch andere Bedeutungsebenen. In Grimms Märchen vom Vogel Greif zum Beispiel tritt das Tier als übermächtig, allwissend, aber auch als gefährlicher Menschenfresser in Erscheinung.
Der Hund 2
Anders als auf der Nordseite der St. Stephani-Kirche wirkt die Hundefigur auf der Südseite wenig bedrohlich. Der Wasserspeier scheint folglich die guten Seiten des Hundes in den Vordergrund stellen zu wollen – und nicht dessen negativen Attribute. Mit seinem zotteligen Fell und seiner ruhigen, hütenden Sitzposition präsentiert sich der Hund als zuverlässiger Wächter und Aufpasser.
Über die Zeit änderte sich die Bedeutung des Hunds in Kunst und Kultur immer wieder. In Verbindung mit dem Wolf und anderen Raubtieren konnte er für die Menschen im Mittelalter eine dämonische Bedrohung verkörpern. Als Haus- und Hütetier wiederum stand der Hund für Treue und Loyalität. Weitere Beschreibungen reichen vom feigen bis zum faulen Hund. Eine Abwertung oder negative Symbolik lässt sich an diesem Wasserspeier der St. Stephani-Kirche aber kaum erkennen.